Nächste Haltestelle: Hamborn Rathaus, krächzt es durch die Lautsprecher der Straßenbahn. Ich steige aus. Hamborn also. Genauer: Alt-Hamborn, ein Stadtteil im Norden Duisburgs. Das erste Auswärtsspiel im neuen Jahr 2016. Ich spiele Tischtennis in der 3. Kreisklasse und die Rückrunde hat kürzlich begonnen. Die 3. Kreisklasse ist im deutschen Tischtennis in etwa das, was im Fußball die Kreisliga C ist. Ein Abstieg ist nicht mehr möglich.
Mein Ziel ist irgendeine gottverdammte Turnhalle einer Grundschule in der Jägerstraße hier in Alt-Hamborn. Wie auch immer diese Sportstätte wohl aussehen mag. Ich schlendere durch eine Standard-Einkaufsmeile und über den alten Marktplatz vorbei an einer urigen Ruhrpottkneipe. „Markt Krone.“ Sie hat geöffnet. Das muss ich hier erwähnen, weil das in Duisburg nicht unbedingt die Normalität ist. In Hamborn, erzählte mir ein Freund und gebürtiger Ureinwohner Hamborns, war mal richtig Halligalli. Er meinte natürlich die Zeit in der im ganzen Ruhrgebiet noch Halligalli war. Das ist Jahrzehnte her. Heute sterben in Duisburg so viele Kneipen wie in keiner anderen Stadt im Westen Deutschlands.
Mein weiterer Weg führt mich an einer Unterkunft für Geflüchtete vorbei. Es ist ruhig. Im Stadtteil nebenan, in Neumühl, macht ein rassistischer Bürgermob seit Jahren gegen jede Unterbringung von Geflüchteten mobil. Mein Verein, die TTS Duisburg, verwurzelt im Duisburger Süden, lädt Geflüchtete zum Tischtennis-Training ein. Wenig später passiere ich eine weitere Gaststätte. „‚In Ruhe’ anspruchsvoll genießen“ steht über der Tür. Genießen kann man hier allerdings nur noch die schmucke Fassade von 1858. Ansonsten ruht die Schänke in Frieden. Und ich spiele Tischtennis.
Die Halle der Grundschule überrascht mich. Solide Umkleidekabinen. Und der Blick in die Dusche löst geradezu Euphorie aus: Schön gefliest, neu, sauber mit gleich mehreren funktionsfähigen Duschen. Da habe ich in Walsum schon ganz anderes gesehen.
Meine Mannschaft, die 4. Herrenmannschaft der TTS Duisburg, sammelt sich im Herzstück einer jeden Sporthalle. Auch hier muss ich mir die Augen reiben. Des Lichtes wegen. Es ist gut, richtig gut. Sie leuchten die schicken blauen Tische umrandet von ebenso schicken blauen Banden ohne eine Spur der Zerstörung, vollends aus. Ich habe in der laufenden Saison noch nie, wirklich nie, so gutes Material gesehen. Beste Voraussetzungen für einen harten Fight.
Nach den Doppeln sieht alles nach genau diesem harten Fight aus. Alle drei Doppel entscheiden sich erst im fünften und letzten Satz. Wir müssen zwei Niederlagen hinnehmen, können aber in einem irrsinnigen, dritten Doppel-Krimi dieses in der Verlängerung des Entscheidungssatzes für uns gewinnen.
Puh. Der war wichtig. Ganz wichtig.
Sonst liegt man hier trotz eines Spiels auf Augenhöhe gleich 0:3 hinten. Nun steht es 1:2 für die Männer vom TTV – die sich gleich das erste Bier öffnen, während ich zum ersten Einzel des Tages an den Tisch trete. Ja, ich spiele das erste Einzel des Tages, da unsere nominelle Nr. 2 ausfällt, ich als Nr. 3 aufrücke und dadurch direkt beauftragt werde gegen die gegnerische die Nr. 1 anzutreten. Na dann wollen wir mal.
Der erste Satz läuft gut an. Ich bin da, ich bin wach, ich bin fit. Und ich kann mithalten. Der erste Satz ist eng aber er geht an mich. Im zweiten Satz kann ich mein Material nutzen. Aber nach einer 9:6 Führung, kommt mein Gegenüber in Fahrt. Zwei Punkte in Folge. 9:8.
Time-Out.
Einatmen.
Ausatmen.
Wasser.
Schluck.
Noch ein Schluck.
Einatmen.
Ausatmen.
Scheisse, man dieser Satz ist so wichtig. Ich stelle das Wasser weg, gehe zurück an den Tisch. Mein Gegenüber schlägt auf. Mein Return ist gut. Hin und her. Rückhand.
Punkt.
YEESS!
Satzball. 10:8.
Aufschlagwechsel.
Punkt.
Faust. 11:8. 2:0 in Sätzen.
Komfortabler kann eine Spielsituation nicht sein. Sie kennen das. Mein Gegenüber auch. Er versucht es im dritten Satz mit allem, mit aller Gewalt. Ich führe schnell haushoch. Sein Frust wird sichtbar, hörbar. Ich halte den Ball im Spiel. 5 Punkte gebe ich ab. Dann schnellt die Faust nach oben. 3:0. Drieizunull. Ich habe soeben die Nr. 1 vom Tisch gefegt. Unser Einser macht es mir gleich und fährt den nächsten Sieg nach Hause. Wir führen jetzt insgesamt 3:2.
Während die nächsten Spiele laufen unterhalte ich mich mit Hartmut und Klemens. Klemens wurde neulich 75 Jahre jung. Der Verein TTV Hamborn ist noch keine 6 Jahre alt. Der TTV ist das Produkt einer Fusion zweier Hamborner Sportvereine, wie ich erfahre: Dem TTC Olympia Hamborn und dem Post SV Siegfried Hamborn. „Post ist ein uralter Hamborner Verein“, erzählt mir Klemens. Aber die dortigen TischtennisspielerInnen strebten nach Unabhängigkeit von der Fußballabteilung des selben Vereins. Und Olympia krankte unter chronischem Mitgliedersterben. So tat man sich zusammen. „Das war ganz toll, ja!“, schwärmt Klemens, nun der Gerätewart im neuen TTV, und drückt mir das aktuelle Vereinsheft in die Hand. „TTV – TopSpin“. Es verspricht „Daten – Fakten – Neuigkeiten“ und beinhaltet neben Anzeigen lokaler Fliesenleger, Dachdecker und KfZ-Mechaniker Kurioses, Mannschaftsberichte und Siegerehrungen. Zum Beispiel für Hartmut. Der hat nämlich kürzlich bei den „Deutschen Meisterschaften im Tischtennis für Senioren des Behindertensportverbandes in der Klasse für Allgemeinbehinderte ab 69 Jahren den 2. Platz geholt“, wie es da heißt.
Neben dem TTV Hamborn spielt Hartmut auch noch für den Betriebssportverein des Chemiewerks Grillo, hier gleich um die Ecke. „Bei Grillo spielt aber nur noch einer aus dem Betrieb“, erklärt er. „Andere Sportler aus dem Betrieb selbst, sind weggestorben“.
Es sterben also nicht nur Kneipen in Duisburg-Hamborn, denke ich mir. Wäre TTC Olympia Hamborn den Schritt nicht gegangen, läge auch dieser Verein im Sterben.
In der Zwischenzeit haben wir fünf Einzel in Folge verloren. Und ich darf wieder an den Tisch. Gegen Hartmut. Enge Kiste. Im dritten Satz liege ich 10:7 zurück. Ich kämpfe, ackere. 10:10. Dann schlägt Hartmut zu. 14:12 für ihn. Scheisse. Ich blicke einem 1:2-Satzrückstand ins Auge. Im vierten Satz schlägt Nervosität in Verzweiflung um. Ich schaffe es nicht mehr. Die sechste Niederlage in Folge. Vier davon 1:3; zweimal 2:3.
Drei folgende Siege für uns können das Spiel nicht mehr drehen. Nach 15 Matches, 63 gespielten Sätzen, 1.197 gespielten Punkten und ungezählten Time-Outs müssen wir eine knappe 9:6-Niederlage akzeptieren. Ich bekomme ein KöPi geschenkt und darf dem Spielerkreis der Hamborner zusehen. Wir verabschieden uns in die Nacht.
Ich fokussiere mein nächstes Ziel: Kneipe.
F.G.
Hier gehts zum Original-Blog: https://www.freitag.de/autoren/felixg/rueckrundenstart-in-der-3-kreisklasse